Seit über 100 Jahren gilt der 1. Mai als zentraler „Feiertag“ der Sozialisten. Der „Tag der Arbeit“, später sogar von den Nationalsozialisten als gesetzlicher Feiertag eingeführt, wurde im Jahr 1889 auf der „Zweiten Internationalen“ als „Kampftag der Arbeiterbewegung“ ausgerufen. Damit wollte man an die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Arbeitern drei Jahre zuvor, beim „Haymarket-Riot“ erinnern. Tagelang streikten die Arbeiter in Chicago, die Ereignisse überschlugen sich, jemand zündete eine Bombe und es starben fast 30 Personen durch die Detonation und die darauffolgenden Kämpfe.

Der Kerngedanke des 1. Mais – der sozialistischen Demonstrationen gegen Staat und Kapital – sind auch nach 132 Jahren die gleichen geblieben. Auch abseits der theoretischen Überlegungen ähneln sich die Demonstrationen: Fast jedes Jahr kommt es zu gewaltsamen Ausschreitungen zwischen „Sozialisten“ (Linksextremen) und Vertretern des Staates, die irgendwie versuchen, auf die Einhaltung der Regeln zu achten.

Friedliche Jahre im Zeichen der hippen Burgeoisie und des Konsums

Im letzten Jahr war der 1. Mai wohl der vorläufige Tiefpunkt in der langen Arbeitertradition. Die sonst so rebellischen Linken ließen sich durch Lockdown und Kontaktbeschränkunken beeindrucken. Es fanden kaum oder nur spärlich besuchte Demos statt, obgleich einige radikalere Jugendorganisationen versuchten, Revolution zu spielen. Wir berichteten. Insgesamt blieb es still.

Aber auch die Jahre vor der Corona-Krise hatten die 1. Mai-Demos es schwer. Das sogenannte „MyFest“ in Berlin lockte tausende Besucher nach Friedrichshain-Kreuzberg und überzeugte die Freizeitlinken mit beschaulicher Atmosphäre, kühlen Getränken, Street-Food und entspannter Stimmung. Das wiederrum stieß den radikalen Linken übel auf: in „ihrem“ Kiez ließen sich die Berliner die Reißzähne ziehen, vergaßen ihren Hass auf Staat und Kapital und wollten ausgelassen feiern. Mojitos für 5 Euro werden ihr übriges getan haben.

Da aufgrund der Corona-Einschränkungen das „Myfest“ dieses Jahr ausfiel, war die Bühne frei für die Linksradikalen, die zudem immer stärker gegen die staatliche Lockdown-Politik wettern. Mit durchschlagendem Erfolg, wie man den Berichten über den 1. Mai entnehmen konnte. Insgesamt wurden 93 Polizisten verletzt, sie mussten teilweise im Krankenhaus behandelt werden. Es kam zu über 350 Festnahmen. Hat damit die Gewalt einen neue Stufe erreicht? Nicht ganz. Was stimmt ist, dass es seit 2017 in der Hauptstadt fast ruhig vorging, es zwar zu kleineren Ausschreitungen, Sachbeschädigungen und einigen Verletzten kam, aber insgesamt gab es keine großen Krawalle.

Zurück zur „Normalität“

Vor 2017 waren Bilder, wie wir sie jetzt wieder sehen durften, aber der Normalfall. 2016 gab es 59 verletzte Polizisten, 2015 41 verletzte Ordnungshüter und 2014 traf es wieder 59 Polizisten. 2013 gab es 54 verletzte Polizisten und 2012 ganze 124 verletzte Beamte. Ein Blick auf die Jahre davor macht das Ganze noch deutlicher: Über 100 verletzte Polizisten nach einem typischen Berliner 1. Mai waren der Normalfall. Zusammengefasst: Nach einigen ruhigen Jahren erreichten die Ausschreitungen und die Gewalt wieder den Stand der 90er und 2000er Jahre.

Was sagt uns das? An erster Stelle ist es irrelevant, welche Regierung in Berlin das Sagen hat: Die Ausschreitungen finden unabhängig von der aktuellen Landespolitik statt. Die bedeutende Frage muss heißen: kehren die linken Eskalationen in die Hauptstadt zurück? Oder handelte es sich um ein letztes Aufflackern der linken Szene, die dieses Jahr massive Rückzugsgefechte führen musste und zahlreiche ihrer Räumlichkeiten verlor. Generell läuft der Trend gegen die klassische, linksradikale Szene. Die Akzeptanz der staatlichen Corona-Maßnahmen von Seiten der LINKEN und Grünen könnte aber für neuen Elan bei den unzufriedenen, radikaleren Jugendlichen sorgen.

Die Reaktion der bürgerlichen Grünen

Annalena Baerbock, die mit den Grünen in Richtung Kanzlerschaft steuert, mimt entsprechend die Bürgerliche und verurteilt die Gewalt auf Polizisten. Damit steht sie in guter Tradition: Denn auch die SPD verurteilt trotz ihrer ideologischen Nähe zu den 1. Mai-Demonstranten jedes Jahr aufs Neue die Ausschreitungen und die Gewalt. Ändern wird sich freilich nichts. Neu ist allerdings, dass gerade die Grünen so vorschnell Richtung „Law-and-Order“ blinken. Dabei waren es gerade die Grünen, die traditionell ein Problem mit der Polizei als Sicherheitskräfte des Staates hatten, und in ihrer Anfangszeit sich Gefechte mit der Polizei lieferten. Hat sie die Partei also gewandelt? Gewissermaßen.

Zwar gibt es noch immer radikale linke Kräfte bei den Grünen, die auch mit Antifa und Linksradikalen gemeinsame Sache machen, aber die Verpackung hat sich geändert. Heute sind die Grünen die „Partei der Beamten“, bürgerlich, linksliberal und westlich geprägt. „Unter den höheren Beamten sympathisieren 40 Prozent mit den Grünen“, berichtete der SPIEGEL bereits 2013, also vor acht Jahren. Mittlerweile ist der Wert weiter gestiegen.

Die Transformation der einstigen Rebellen wird für enormen Zündstoff sorgen. Gerade in der Hauptstadt. Denn eines haben die außerparlamentarischen sozialistischen Kräfte in der Bundesrepublik in den letzten Jahren gelernt: Auf linke Politik in der Regierung ist kein Verlass.

Die linke Szene ist im Wandel begriffen. In welche Richtung, wird man dann spätestens am 1. Mai 2022 sagen können.