Das VICE-Magazin machte sich im vergangenen Jahr über die geringe Resonanz beim sogenannten Aussteigertelefon des Bundes für Linksextremismus lustig. Seit 2011 gibt es eine bundesweite Hotline bei der Linksextreme sich beraten lassen können, wenn sie aus der Szene aussteigen. Jährlich riefen circa zehn Interessierte an, spottet das Magazin. Ob die Zahlen stimmen, lässt sich nicht nachprüfen. Nach Ansicht des VICE-Magazins rechtfertigt eine derartig geringe Zahl von Nutzern des Angebots keine eigene Hotline.

Wie es allerdings beim Aussteigertelefon für Rechtsextreme aussieht, verschweigt die Plattform geflissentlich. Die ZEIT hingegen berichtete noch einen Monat zuvor über die aktuellen Zahlen zur Hotline:

Laut einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken-Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke meldeten sich seit Beginn des Jahres drei Aussteigewillige bei der Behörde. 2017 habe es zwölf Kontaktaufnahmen gegeben, im Jahr davor seien es acht gewesen.“

Im gesamten Bundesgebiet gibt es also keinen wirklichen Unterschied zwischen links- und rechtsextremen Aussteigern. Trotzdem schaut VICE nur auf die linken Zahlen und argumentiert damit gegen ein geplantes Aussteigerprogramm für Linksextremismus im Bundesland Nordrhein-Westphalen, das von NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) initiiert wurde. Linksextremismus sei in Deutschlands bevölkerungsreichstem Bundesland nur ein Randphänomen. Das VICE-Magazin schreibt:

Insbesondere wenn man bedenkt, dass laut dem aktuellsten NRW-Verfassungsschutzbericht für 2016 linksradikal motivierte Straftaten deutlich zurückgegangen sind, gegenüber einem Rekordhoch bei rechtsradikalen Straftaten.

In Zahlen ausgedrückt: Rechte begingen 2017 in NRW 3.747 Delikte, davon 206 Gewalttaten. Linken wurden 1.351 Delikte zugeordnet, davon 191 Gewalttaten.“

VICE verwendet hier zwar die korrekten Zahlen, interpretiert die Statistik allerdings bewusst unsauber. Ja, linksextreme Gewalt ist rückläufig, Kriminalität von „rechts“ verschwindet interessanterweise noch schneller. Die Westfalenpost fasst zusammen:

Besonders augenfällig ist die rückläufige Tendenz beim Rechtsextremismus: Die Zahl der Straftaten nahm von 4700 auf 3764 ab – ein Minus von fast 20 Prozent. Im Linksextremismus stand ein Rückgang von 1576 auf 1374 und damit um gut zwölf Prozent zu Buche.“

Westfalenpost

Wirft man einen weiteren Blick in den Verfassungsschutzbericht des Landes NRW, liest man bereits im Vorwort: „Linksextremistisch motivierte Kriminalität steigt im Zehnjahresvergleich stetig an, auch wenn im Jahresvergleich in 2017 ein Rückgang zu verzeichnen ist.

VICE und diverse linke Medien beziehen sich lediglich auf das extrem kriminelle Referenzjahr 2016, um zu betonen, dass linke Kriminalität in Nordrheinwestfalen weiter sinkt.

Aber zurück zum Aussteigertelefon: Folgt man der fragwürdigen Argumentation von VICE, müsste man ebenfalls kein Aussteigerprogramm für rechtsextrem Straftäter mehr anbieten. Schließlich sind die Straftaten ja rückläufig, sogar deutlich rückläufiger als bei den Linken. Die höhere Gesamtzahl rechtsextremer Delikte ist übrigens – wie immer und überall – der Einordnung von Hakenkreuzen als verfassungsfeindliche Symbolik in die Kriminalstatistik geschuldet. Allein 2017 gab es 2.273 sogenannte Propagandadelikte, beim Großteil davon handelt es sich um Hakenkreuzschmierereien. Wäre in Deutschland das propagandistische Pendant – Hammer, Sichel und roter Stern – verboten, die Zahl linker Straftaten würde ins Unermessliche steigen. Eine absurde Idee? In Lettland, Litauen, Moldawien und einigen anderen östlichen Staaten, steht das Verwenden kommunistischer Symbolik unter Strafe.

Inwiefern die Hakenkreuze tatsächlich von Rechtsextremen angebracht wurden, steht ohnehin auf einem anderen Blatt. Im vergangenen Jahr berichtete die bundesweite Presse über einen angeblich rechten Brandanschlag auf eine Asylunterkunft. Später stellte sich heraus, dass der Asylant seine Spur verwischen wollte, in dem er ein Hakenkreuz an die Wand schmierte. Er war mit seiner Unterkunft unzufrieden.

Mit viel Hohn blickten die linken Medien auf die Ankündigung NRW-Innenministers Reul. Die taz spottete, man wolle „Klimaschützer bekehren“, und man „brauche kein Aussteigerprogramm“. Der linke Freitag kritisierte: „Dieses Programm ist ein reines Propagandainstrument und wird nicht den Erfolg erzielen, den es suggeriert, doch das ist mit hoher Wahrscheinlichkeit auch gar nicht deren Zweck.“ „Endstation rechts“, eine Seite der Jusos Mecklenburg-Vorpommern urteilte: „Das Aussteigerprogramm für Linksextremisten erwies sich als Schuss in den Ofen“

Es kam anders als erwartet. Im Dezember 2018 zog das Innenministerium allerdings die erste Bilanz:

Die Resonanz der ersten Monate zeigt, dass auch im Linksextremismus Bedarf für ein Ausstiegsangebot besteht“, teilte NRW-Innenminister Herbert Reul der WELT mit. Im Aussteigerprogramm betreute man bereits in den ersten Monaten 21 Fälle. Wie kann man diese Zahl einordnen? Zum Vergleich: In Sachsen gibt es seit rund sieben Jahren ein Aussteigerprogram für jeglichen Extremismus, egal ob links, rechts oder islamisch. Dort betreute man, so berichtet der mdr, seit Errichtung der Anlaufstelle 78 Fälle; umgerechnet also elf Fälle pro Jahr. In nur wenigen Monaten meldeten sich in Nordrhein-Westfalen doppelt so viele ausstiegswillige Linksextremisten, als sächsische Extremisten jeglicher Couleur in einem ganzen Jahr. Die Nachfrage, aus der linksextremen Szene auszusteigen, ist größer denn je.

Quellen

https://www.vice.com/de/article/xw7vgj/das-aussteigertelefon-fur-linksextremisten-ist-ein-totaler-reinfall

https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-04/bundesamt-verfassungsschutz-aussteigerprogramm-rechtsextremismus-zahlen